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An jedem Zahn hängt ein ganzer Mensch

Sie befasste sich bereits kritisch mit dem Werkstoff Titan, als dieser noch grundsätzlich als biokompatibel und inert galt: Dr.  Elisabeth Jacobi-Gresser, niedergelassene Oralchirurgin mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Implantologie, gleichzeitig Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Umwelt-Zahnmedizin (DEGUZ e. v.) und Wissenschaftliche Leiterin des Curriculums „Integrative Zahnmedizin“ der LZÄK Rheinland-Pfalz hat mit dem falschen Terminus „Titan-Allergie“ aufgeräumt. pip wollte wissen, wie ihr Spezialgebiet sich heute darstellt.

pip: Mal im Ernst, Unverträglichkeiten auf Titan sind doch ein rein deutsches Problem, oder?

Dr. Jacobi-Gresser: Deutschland gehört zu den Ländern, in denen die moderne enossale Implantologie eine frühe und rasante Entwicklung nahm und somit können wir auf nunmehr 50 Jahre Forschung, klinischen Einsatz und Erfahrung in der Titanimplantologie zurückblicken. Die nach Implantationen beobachteten Gewebeentzündungen wurden allerdings abgesehen von iatrogenen Fehlern im Wesentlichen ursächlich dem Patienten im Sinne einer mikrobiellen Entzündung durch ein Hygienedefizit zugeschrieben.

pip: Titan verfügt doch erwiesenermaßen über eine exzellente Biokompatibilität!

Dr. Jacobi-Gresser: Wir haben in den letzten Jahren neue Erkenntnisse über Immunreaktionen auf Biomaterialien gewonnen. Seit den frühen 1980er-Jahren gibt es bereits wissenschaftliche Daten aus Tiermodellstudien wie auch vereinzelte Untersuchungen an humanen Präparaten zu Partikelbelastungen in periimplantären Geweben und in vom Implantationsort entfernten Lymphknoten und Organen. Seit zwei Jahrzehnten sind Daten zu immunologischen Parametern Bestandteil der weltweiten Grundlagenforschung – mit beachtenswerten Aussagen über die Auswirkungen von Mikro- und Nanopartikeln aus Titanimplantaten im Tiermodell. Hier liegt der Fokus v. a. auf den toxischen und immunologischen Auswirkungen auf Gewebe- und Organsysteme durch derartige Partikel, die zur Funktionsbeeinträchtigung führen können. Es werden Schädigungen selbst bei den Nachkommen gefunden, wenn fertile Muttertiere mit Titanimplantaten belastet wurden oder Titanpartikel durch Nahrung zugeführt wurden. Wir wissen letztlich jedoch viel zu wenig über die möglichen nachhaltigen Folgen von Implantationen.

pip: Wie genau kann eine Titanunverträglichkeit entstehen?

Dr. Jacobi-Gresser: Eine Titanunverträglichkeit beruht auf einer unspezifischen Entzündungsreaktion auf Materialpartikel, die sich von der Implantatoberfläche durch mechanischen Abrieb beim Inserieren oder durch Mikrobewegungen im Knochenbett bei Belastung, aber auch am Implantat-Abutment-Interface absiedeln. In Abhängigkeit von Eigenschaften und Beschaffenheit der rauen Implantatoberfläche führen elektrolytische Korrosionsvorgänge (Tribokorrosion) zur Partikelaussaat ins Gewebe. Im Kontakt mit Immunzellen finden dann Interaktionen mit dem körpereigenen Abwehrsystem statt. Titan hat aufgrund seiner im Gegensatz zu anderen Metallen herausragenden Oxidationsfähigkeit in der Regel kein  allergisierendes Potenzial, da es nicht als Ion, sondern als partikuläre Struktur in Geweben vorliegt. Es löst damit unter physiologischen Bedingungen primär keine T-Lymphozytenreaktion aus. Es besteht in Fachgremien Konsens darüber, dass ein auf Lymphozyten ausgerichteter Zellfunktionstest keine Aussage über die Verträglichkeit von Titan erlaubt. Stattdessen wird aufgrund des Partikelreizes das monozytäre Abwehrsystem aktiviert. Dieser Vorgang führt zur Ausschüttung von proinflammatorischen Zytokinen wie von Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) und Interleukin-1β (IL-1β) durch Aktivierung der Monozyten / Makrophagen. Ihre Aufgabe ist die Elimination von Fremdstoffen, wie z. B. Bakterien, durch Lyse in ihrem Zytoplasma. Diese Elimination gelingt allerdings bei der Aufnahme von Metallpartikeln nicht. Stattdessen fallen die Makrophagen bei einer intrazellulären Überbeladung in einigen Fällen der Apoptose oder der Nekrose anheim. Grundsätzlich aber führt die Partikelaufnahme bzw. ein Partikelkontakt durch die Makrophagen zu deren Aktivierung. Die Bildung der Zytokine TNF-α und IL-1β hat nicht nur lokale, sondern auch systemische Auswirkungen. Als proinflammatorische „Alarmzytokine“ stehen sie am Anfang von komplexen kaskadenartigen Immunreaktionen.

pip: Gibt es grundsätzlich eher gefährdete Patienten und welche Optionen bestehen für diese?

Dr. Jacobi-Gresser: Zunächst sollte das Risikoprofil bei Patienten, die bereits durch anamnestische Angaben verdächtig sind, präimplantologisch durch Labortests evaluiert werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die Erkennung und Eliminierung von anderen toxikologischen und immunologischen Belastungen aus der Zahnmedizin – wie unverträgliche Restaurationswerkstoffe und insuffiziente Wurzelkanalbehandlungen. Mit der Abklärung aller möglichen Belastungen aus der oralen Medizin beschäftigt sich die Umweltmedizin und Umweltzahnmedizin. Die Verwendung moderner Implantate aus Hochleistungskeramiken wie Zirkonoxid stellt – wie es scheint – eine biologisch verträglichere Alternative dar. Inzwischen stehen nicht nur die einteiligen, sondern auch zweiteilige verschraubte Zirkonimplantatsysteme zur Verfügung und bewähren sich im klinischen Alltag. Sie erlauben einen implantatgestützten Zahnersatz in allen Indikationsbereichen, die bisher mit Titanimplantaten gelöst werden konnten. Aber auch in diesem Bereich ist es Aufgabe der Grundlagenforschung das Materialverhalten zu überprüfen, die Langzeitauswirkungen zu analysieren und die Unbedenklichkeit zu untersuchen, selbst wenn die klinische Anwendung in allen Aspekten gute Erfolge zeigt.

pip: Besten Dank, Frau Dr. Jacobi-Gresser, für dieses Gespräch.