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Einwurf von dorsolateral: Mythos Stabilitätsverlust bei Sofortversorgung

Der Autor beschreibt, warum aus seiner Sicht ein Umdenken bezüglich der Sofortversorgung notwendig scheint. Er geht hierbei auf die Studienlage ein und sensibilisiert für ein Hinterfragen „alter“ Studienergebnisse.

In vielen Artikeln zur Sofortversorgung von Implantaten wird das immer gleiche Mantra vom Stabilitätsverlust zwischen der zweiten und sechsten Woche nach der Implantation wiederholt. Dabei wird häufig eine Graphik abgebildet (Abb. 1), nach der die hohe mechanische Stabilität zu Beginn sehr schnell abgebaut und die durch die Osseointegration erzielte biologische Stabilität erst langsam aufgebaut wird. Das Niveau der biologischen Stabilität nach ein paar Wochen liegt schließlich auch noch niedriger als das Ausgangsniveau. Daraus wird abgeleitet, die Sofortbelastung sei mit einem höheren Risiko verbunden als die zweizeitige Implantologie.

Abb. 1 Grafische Darstellung der Stabilitätsphasen (© pip)

Diese Theorie wird seit den Urzeiten der oralen Implantologie ungeprüft übernommen und weitergetragen. Kein Mensch hinterfragt mehr, wie wurde gemessen, mit welchem Implantatsystem wurde gemessen, welche Oberfläche hatte das Implantatsystem, und gibt es vielleicht aktuellere Studien, die etwas anderes zeigen? Bisweilen erinnert es mich an den berüchtigten Kommafehler beim angeblichen hohen Eisengehalt des Spinats, der sich Jahrzehnte durch die Literatur zog, weil der Wert einfach abgeschrieben bzw. zitiert wurde, ohne ihn je kritisch zu hinterfragen.

Sofortversorgung: Stabilitätsentwicklung von zwei modernen Implantatsystemen

Was fällt auf, wenn man diese und ähnliche Graphiken anschaut? Es gibt keine Messwerte. Es wird nur die Stabilität in Prozent angegeben. Nun reden wir aber doch so gern von evidenzbasierter Medizin. Schauen wir also in die Literatur, was wir zu diesem Thema finden. Zum Beispiel wurde 2013 von Markovic et al. an der Universität Belgrad eine Untersuchung veröffentlicht,  in der die Stabilitätsentwicklung von zwei modernen Implantatsystemen einmal mit selbstschneidendem Gewinde und einmal mit Gewindeschneider miteinander verglichen wurde. Die Stabilität wurde dabei mittels Resonanzfrequenzanalyse (RFA) wöchentlich gemessen. Dabei wurde in Gruppe 1 die Aufbereitung durch Bohren und in Gruppe 2 die Aufbereitung durch Knochenkondensation durchgeführt.

Abbildung 2 zeigt das Ergebnis dieser Studie. Wie zu erwarten, konnte durch die Kondensation höhere Werte als bei der Aufbereitung durch Bohrer erzielt werden. Selbstschneidende Gewinde weisen bei beiden Aufbereitungsarten leicht höhere Werte auf als bei der Aufbereitung mit Gewindeschneider. Interessanterweise ist beim Bohren die biologische Stabilität nach einigen Wochen auf einem höheren Niveau als der Ausgangswert.

Abb. 2 Grafische Übersicht Primärstabilität (© pip, nach Clinical Implant Dentistry and Related Research, Volume 15, Number 3, 2013)

Alle Kurven weisen einen Rückgang der Stabilität auf:

  • Bohren und selbstschneidend: 65 ISQ auf 64 ISQ, Rückgang ca. 1,5 %
  • Bohren und Gewindeschneider: 61 ISQ auf 59 ISQ, Rückgang ca. 3 %
  • Kondensieren und selbstschneidend: 75 ISQ auf 70 ISQ, Rückgang um ca. 8 %
  • Kondensieren und Gewindeschneider:75 ISQ auf 70 ISQ, Rückgang um ca. 8 %

Der Rückgang ist also wesentlich geringer als in der Theorie impliziert. Bei der Aufbereitung mittels Bohren ist sie praktisch nicht vorhanden, und selbst bei der minimalen Stabilität von 92 % bei der Kondensation liegen wir auf einem absolut höheren Niveau als beim Bohren.  Aus dieser Untersuchung kann man also ableiten, dass es den immer wieder zitierten Verlust an Primärstabilität nicht gibt,  und dass eine Sofortversorgung in dieser Hinsicht sicher durchgeführt werden kann.

Positiver Effekt der Sofortversorgung?

Bleibt die Frage ob es nicht vielleicht sogar einen positiven Effekt gibt durch die Sofortversorgung. Zumindest in der Orthopädie werden Hüftimplantate sofort nach der OP teilbelastet und durch Physiotherapie durch progressive loading langsam an die maximale Last herangeführt. Der Ansatz ist,  die Osseointegration durch das Training des Knochens zu fördern. Kann dieser Ansatz auch auf die orale Implantologie übertragen werden?

Einen Hinweis, dass dies durchaus möglich ist, bietet die 2014 veröffentlichte Studie von Delgado Ruiz et al [1]. Hier wurden in einer Tierstudie drei verschiedene Implantate mit unterschiedlichen Oberflächen miteinander verglichen.

  • Titanimplantat mit gestrahlt geätzter Oberfläche (Kontrollgruppe)
  • Zirkonoxidimplantat mit gestrahlter Oberfläche (Test A)
  • Zirkonoxidimplantat mit laserbehandelter Oberfläche (Test B)

Abb. 2 Grafische Übersicht Sofortversorgung (© pip, nachClinical Implant Dentistry and Related Research, Volume 16, Number 6, 2014)

Dabei wurden zwei Gruppen gebildet. In der einen Gruppe heilten die Implantate unbelastet, bei der anderen Gruppe belastet ein. Anschließend wurde der Knochen-Implantat-Kontakt der verschiedenen Gruppen gemessen.

Abbildung 3 zeigt das Ergebnis dieser Studie, das sich wie folgt einfach zusammenfassen lässt. Bei Sofortbelastung ist der Knochen-Implantat-Kontakt unabhängig vom Material des Implantats oder dessen Oberflächenstruktur immer signifikant besser als bei einem schlafenden Implantat. Daraus können wir ableiten, dass die Erfahrungen aus der Orthopädie mit osseointegrierten Implantaten auch auf die orale Implantologie übertragen werden können. Liegt eine ausreichende Primärstabilität vor, sollte das Implantat sofort belastet werden, um eine bessere Osseointegration zu erzielen.

Sofortversorgung: Umdenken

Das klassische Vorgehen der unbelasteten Einheilung führt zu einer schlechteren Osseointegration und daher ist ein Umdenken der Mehrheit der Implantologen notwendig. Sofortversorgung funktioniert, wir benötigen nur Implantatsysteme mit ausreichender Primärstabilität und prothetische Materialien, die das progressive Loading unterstützen. Konkret, wir brauchen  physiologische Prothetikmaterialien, die die Belastungsspitzen dämpfen, damit keine zu hohen Belastungen am Implantat-Knochen-Interface ankommen. Wenn dazu die passenden Okklusionskonzepte hinzukommen, und keine Extensionen in die prothetische Versorgung eingebaut werden, so dass keine Hebelkräfte auftreten, dann kann, wie die klinische Erfahrung aus mehr als zehn Jahren Sofortversorgung gezeigt hat,  nichts mehr schiefgehen.

Autor: Roland Benz