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Management großer Kieferdefekte

Kieferdefekte: Traumatische Ursachen, die Entfernung maligner oder benigner Tumore, Osteoradionekrosen, kongenitale Missbildungen (z. B. Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten) aber auch Zahnextraktionen oder generalisierte Parodontopathien können zu großen Kieferdefekten führen, deren Rekonstruktion hohe Ansprüche an das chirurgische Team stellt. Dabei führen die Verschiedenartigkeit der Genese, der Lage, der Form und Ausdehnung von Knochendefekten nicht nur in fachlicher Hinsicht zu einer erschwerten Definition eines konkreten metrischen Schwellenwerts zur Eingrenzung des Begriffs „großer Kieferdefekt“. Auch in Bezug auf die Berechenbarkeit bestimmter GOZ oder GOÄ-Gebührenziffern im Rahmen implantologisch chirurgischer Maßnahmen bestehen in Bezug auf die Defektgröße und die damit verbundenen Leistungsinhalte offensichtlich unterschiedliche Auffassungen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern.

In der Literatur wird der Begriff des Defekts „kritischer Größe“ (critical size defect, CSD) zur Abgrenzung von Kiefer-, bzw. Knochendefekten großen und geringeren Umfangs verwendet. Aber auch hier mangelt es offensichtlich am nötigen Konsens darüber, in welchen Fällen ein CSD vorliegt. Aus diesem Grund hatte es sich eine Reihe tierexperimenteller Studien zur Aufgabe gemacht, anhand experimenteller Untersuchungen am Klein- und Großtierschädelknochen die kritische Defektgröße zu bestimmen und zu definieren. Auf Grundlage der dort gewonnenen Erkenntnisse liegt eine kritische Defektgröße immer dann vor, wenn ein vollständiger knöcherner Spontanverschluss des Knochendefekts nicht möglich ist [Shanbhag, et al., 2017a]. Erkenntnissen eines systematischen Reviews zufolge soll es sich bei Schädeldachdefekten ab einem Durchmesser von 5,0 cm um CSD handeln [Vajgel, et al., 2014]. Hier wird wiederum der Mangel an einheitlichen experimentellen Standards deutlich, u. a. was die Art der jeweils untersuchten Defektmorphologie anbetrifft. So wurden Studien mit runden, rechteckigen, bogen- oder sattelförmigen Defektmorphologien durchgeführt, die aufgrund der Heterogenität der untersuchten Defekte eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse einschränken [Marei, et al., 2018]. Zur Rekonstruktion von Kontinuitätsdefekten des menschlichen Unterkiefers können Transplantate aus dem Wadenbein (Fibula), dem Beckenkamm, der Speiche, dem Schulterblatt, den Rippen, dem Mittelfuß- und dem Oberarmknochen eingesetzt werden [Brown, et al., 2017].

Beim Vergleich der Resorptionsraten von autologen Knochentransplantaten in Abhängigkeit von ihrem Entnahmeort konnten in einer retrospektiven Untersuchung nach Unterkieferrekonstruktion mit Transplantaten aus dem Schulterbereich mit 14,0 % die höchsten und für Fibulatransplantate mit 1,0 % die niedrigsten Resorptionsraten festgestellt werden [Wilkman, et al., 2017]. Auch in anderen Studien konnten signifikant geringere Resorptionsraten von Transplantaten aus der Fibula als bei Transplantaten aus dem Becken- und Schulterbereich beobachtet werden [Verhelst, et al., 2019]. Freie Fibulatransplantate werden am häufigsten als osteokutane Transplantate zur Unterkieferrekonstruktion eingesetzt [Moubayed, et al., 2014]. Sie gelten als Goldstandard bei der Segmentrekonstruktion im Unterkiefer, da sie aufgrund ihrer Länge sehr gut zur Wiederherstellung der Unterkieferkontur beitragen können [Lin, et al., 2019, Lonie, et al., 2016]. Dabei besteht offenbar in der chirurgischen Praxis die grundsätzliche Auffassung, dass große Defekte von mehr als 6,0 cm Länge nur mittels vaskularisierter autologer Knochentransplantate erfolgreich rekonstruiert werden können.

Der wissenschaftliche Ursprung dieser „6, 0 cm-Regel“ ist allerdings unklar. Daher war es das Ziel eines systematischen Reviews, diese Regel zu untersuchen. Die Analyse ergab, dass es weder eine wissenschaftliche Grundlage für die „6,0 cm-Regel“ gibt, noch dass Knochentransplantate, die länger als 6,0 cm sind, unbedingt vaskularisiert sein müssen. Der Einsatz vaskularisierter Knochentransplantate führte sogar eher zu Transplantatbrüchen, Pseudoarthrosen oder biologischen Komplikationen, die eine chirurgische Revision erforderlich machten [Allsopp, et al., 2016]. In einem weiteren Review wurde dargestellt, dass auch bei nichtvaskularisierten Transplantaten relativ hohe Erfolgsraten zwischen 67,0-100,0 % beobachtet werden konnten [Akinbami, 2016]. Bei Versorgung von Unterkiefer-Kontinuitätsdefekten mittels nicht vaskularisierter Beckenkammtransplantate zeigte sich, dass Misserfolge mit der Größe des Defekts signifikant assoziiert waren. So konnten nach Versorgung von Defekten ab einer Länge von > 9,0 cm häufiger Fehlschläge beobachtet werden als bei kleineren Defekten [Osborn, et al., 2018]. Auch wenn autologe Transplantate insbesondere bei der Versorgung großer Kieferdefekte am besten zur Rekonstruktion geeignet sind, stellt die Spendermorbidität an der Entnahmestelle nach wie vor eine hohe Belastung für den Patienten dar [Nkenke und Neukam, 2014].

Daher bestehen Bestrebungen, autologe Knochentransplantate mittels allogenen oder synthetischen Materialien zu ersetzen. In einem systematischen Review konnte festgestellt werden, dass Knochenblöcke allogenen Ursprungs sich bei der horizontalen Augmentation in Bezug auf den Zugewinn an Alveolarkammbreite, Knochenregeneration sowie die Implantatüberlebensraten als gleichwertig im Vergleich zu autolog gewonnenen Knochenaugmentaten verhalten [Starch-Jensen, et al., 2020]. Gleichzeitig bestehen große Bestrebungen, den klinischen Einsatz synthetischer Materialien voranzutreiben. Im Tiermodell konnten mittels blockförmiger synthetischer Augmentate gute Ergebnisse erzielt werden, deren standardmäßiger klinischer Einsatz durch entsprechende Humanstudien noch bestätigt werden muss [Tumedei, et al., 2019]. Digitale dreidimensionale chirurgische Design- und Simulationstechniken haben das Potenzial, zu vorhersehbaren Ergebnissen bei der Defektrekonstruktion und der nachfolgenden Implantatversorgung zu führen und die Behandlungsdauer bis zur definitiven prothetischen Versorgung signifikant zu verkürzen [Chuka, et al., 2017].

Die Literatur-Recherche zum Thema finden Sie im PDF (s. unten).