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Antikoagulanzien

Die prophylaktische oder therapeutische Anwendung von Antikoagulanzien und Thrombozyten- bzw. Plättchenaggregationshemmern schützt Patienten vor lebensgefährlichen Thromboembolien. Gleichzeitig erhöht die Einnahme der Gerinnungshemmer die Risiken für lebensbedrohliche Blutungsereignisse. In der zahnärztlichen Praxis bedeutet ein Eingriff bei diesen Patienten Nutzen und Risiken der Beibehaltung der Medikation gegenüber dem Absetzen oder der Dosisreduktion des Präparates sorgfältig abzuwägen. Die Vielzahl der zugelassenen Wirkstoffe und ihrer Wirkungsweisen stellt Ärzte und Zahnärzte gleichermaßen vor Probleme bei der Einschätzung perioperativer Risiken.

Thrombozytenaggregationshemmer (TAH) werden u. a. zur Primär- und Sekundärprophylaxe des Herzinfarkts und bei Patienten mit zerebrovaskulären Durchblutungsstörungen eingesetzt. Der bekannteste Vertreter der TAH ist die Acetylsalicylsäure (ASS), die durch ihren Wirkmechanismus bereits in niedriger Dosierung eine über mehrere Tage andauernde Hemmung der Plättchenaggregation bewirkt. Zur TAH gehören auch P2Y12-Hemmer (Clopidogrel, Prasugrel und Ticagrelor). Vitamin K- Antagonisten (VKA), zu denen die Präparate Marcumar und Warfarin gehören, hemmen die Produktion der Vitamin K-abhängigen Gerinnungsfaktoren in der Leber. Sie werden u. a. zur Prophylaxe von Thromboembolien nach Herzklappenersatz, Lungenembolien oder tiefen Beinvenenthrombosen eingesetzt.

Bei größeren Eingriffen wird empfohlen, die Gabe von VKA auszusetzen und mittels Heparin zu überbrücken. Für dieses sogenannte „Bridging“ stehen niedermolekulare (NMH) und unfraktionierte Heparine (UFH) zur Verfügung. Bei UFH sind infolge des Resorptionsverhaltens die Plasmakonzentrationen schlecht vorhersehbar, sodass beim Bridging fast ausschließlich auf NMH zurückgegriffen wird.

Aktuelle Untersuchungen stellen das Bridging infrage, da dort ein stark erhöhtes Blutungsrisiko ermittelt wurde, ohne dass gleichzeitig das Risiko für eine Thromboembolie reduziert werden konnte. Direkte, nicht Vitamin K-abhängige, orale Antikoagulanzien (DOAKs) bzw. neue direkte Antikoagulanzien (NOAKs) wie Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban und Dabigatran stellen bei der Prophylaxe von Schlaganfällen und Thromboembolien eine Alternative zu VKA dar.

Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban wirken direkt inhibierend auf den Blutgerinnungsfaktor Xa, während Dabigatran als direkter Thrombinhemmer wirkt. Der Vorteil der DOAKs im Vergleich zu den VKA ist, dass regelmäßige laborchemische Untersuchungen entfallen. Allerdings sind für DOAKs nur begrenzt Schnelltests zur Bestimmung einer therapeutisch wirksamen Gerinnung verfügbar. Antidote liegen derzeit nur für Dabigatran vor. Dieser Mangel führt insbesondere durch die häufigen behandlungsbedürftigen Komorbiditäten von Patienten unter gerinnungshemmender Therapie sowie in Notfallsituationen zu hohen Risiken.

Vorsicht ist grundsätzlich geboten bei Nieren- und Leberfunktionseinschränkungen, da diese das Kumulationsrisiko von DOAKs erhöhen. Die Entscheidung für den Einsatz von DOAKs anstelle von VKA hängt auch von den dadurch erreichten Zielwerten der International Normalized Ratio (INR) ab. Somit kommen DOAKs nur bei bestimmten Indikationen infrage.

Die INR dient zur Messung der Intensität der Gerinnungshemmung und wird aus dem Quotienten der Gerinnungszeit beim Patienten und einer gesunden Person ermittelt. Der Normwert liegt demnach bei 1,0. Der Zielwert unter Gerinnungshemmung bzw. der therapeutische Bereich muss dementsprechend höher sein und beträgt 2,0 bis 3,0. Bei Werten unterhalb des therapeutischen Bereichs (< 2,0) besteht das Risiko einer Thromboembolie, bei Werten > 3,0 ist das Blutungsrisiko erhöht.

In der verfügbaren Literatur zu zahnärztlichen bzw. oralchirurgischen Eingriffen unter gerinnungshemmender Therapie wird darauf hingewiesen, dass eine Änderung bzw. ein Absetzen einer gerinnungshemmenden Medikation bei einfachen Eingriffen nicht notwendig sind. Angaben aus verschiedenen systematischen Übersichtsarbeiten zufolge ist dies der Fall bei den Präparaten Dabigatran [Curto, et al., 2017a, Mingarro-de-Leon und Chaveli-Lopez, 2013], Apixaban [Mingarro-de-Leon und Chaveli-Lopez, 2013], Edoxaban [Curto, et al., 2017b], Rivaroxaban [Mingarro-de-Leon und Chaveli-Lopez, 2013], der dualen antithrombozytären Therapie mit Acetylsalicylsäure plus Clopidogrel [van Diermen, et al., 2013], der einfachen und der dualen Gabe von THA [Napenas, et al., 2013], VKA [Kammerer, et al., 2015, Madrid und Sanz, 2009, Nematullah, et al., 2009] und grundsätzlich bei DOAKs [Lanau, et al., 2017].

Diesen Aussagen stehen Erkenntnisse aus anderen systematischen Reviews entgegen. So konnte in einer aktuellen Publikation eine signifikant erhöhte Risk Ratio bei der Beibehaltung einer Administration mit DOAKs ermittelt werden. Insbesondere waren Blutungsrisiken bei Rivaroxaban signifikant erhöht [Bensi, et al., 2018]. In einer Übersichtsarbeit der Cochrane Collaboration aus 2018 wurde entgegen der vorgehenden Erkenntnisse festgestellt, dass aufgrund der eingeschränkten Studienlage keinerlei Aussagen zum Einfluss von DOAKs auf Blutungsrisiken bei oralchirurgischen Eingriffen möglich sind [Engelen, et al., 2018].
Auch in einem weiteren systematischen Review wurden der niedrige Evidenzgrad zum Einsatz von DOAKs sowie die geringen klinischen Erfahrungen beim Einsatz dieser Gerinnungshemmer festgestellt [Fortier, et al., 2018]. Bei Fortführung einer Warfarin-Gabe waren um mehr als das zweifache erhöhte Risiken für Nachblutungen erkennbar [Owattanapanich, et al., 2019].
In einer weiteren Publikation wird sogar auf ein bis zu 40-fach erhöhtes Blutungsrisiko bei Weiterführung einer dualen antithrombozytären Therapie mit ASS und Clopidogrel hingewiesen [Zabojszcz, et al., 2019]. Dies steht im Widerspruch zu Beobachtungen aus kontrollierten Studien, bei denen Zahnextraktionen auch bei einer Kombinationstherapie sicher durchgeführt werden konnten [Akhlaghi, et al., 2017, Dezsi, et al., 2015].

Auch in einer älteren systematischen Übersichtsarbeit wird auf Grundlage der dortigen Erkenntnisse davon ausgegangen, dass eine duale Therapie bei Zahnextraktionen nicht abgesetzt werden soll [van Diermen, et al., 2013]. In Bezug auf eine THA-Monotherapie mit ASS konnte ein mehr als zweifach erhöhtes Risiko für Blutungen nach einfachen Zahnextraktionen ermittelt werden [Zhao, et al., 2015].

Ein Bridging mit Heparin ist im Rahmen von Extraktionen nicht notwendig [Bajkin, et al., 2009, Lanau, et al., 2017, Patatanian und Fugate, 2006]. Nachblutungen können offensichtlich in der Mehrzahl der Fälle mit lokalen Maßnahmen zur Blutungsstillung beherrscht werden. Unter anderem kann Tranexamsäure effektiv zur lokalen Blutungsprophylaxe [Carter und Goss, 2003, Carter, et al., 2003] oder Blutungsstillung [Engelen, et al., 2018] eingesetzt werden.

Offensichtlich ist eine Weiterführung der gerinnungshemmenden Therapie bei zahnärztlich-chirurgischen Maßnahmen kleineren Umfangs – unabhängig vom jeweiligen Präparat – möglich. Aufgrund der häufig fehlenden Präzisierung in der Literatur sollte der Schweregrad/Umfang des Eingriffs in Abhängigkeit vom jeweiligen zu erwartenden Blutungsrisiko eingeschätzt werden. In jedem Fall sollte im Vorfeld eine fachliche Konsultation mit dem behandelnden Facharzt erfolgen.

Im Zuge der Literatur-Recherche fanden sich in der allgemeinmedizinischen Literatur einige auch für den Zahnmediziner relevante und interessante Beiträge, die wir Ihnen hier zusätzlich zur Verfügung stellen möchten:

Altiok E, Marx N. Orale Antikoagulation. Dtsch Arztebl International 2018;115:776-783. 

Beyer-Westendorf J, Klamroth R, Kreher S, Langer F, Matzdorff A, Riess H. NOAK als alternative Therapieoption bei tumorassoziierter venöser Thromboembolie. Dtsch Arztebl International 2019;116:31-38. 

Eichinger S. Direkte orale Antikoagulantien: Welche Patienten eignen sich zur Behandlung mit diesen Substanzen? Wiener klinische Wochenschrift Education 2015;10:1-13. 

Lange CM, Fichtlscherer S, Miesbach W, Zeuzem S, Albert J. Periinterventioneller Umgang mit Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern. Dtsch Arztebl International 2016;113:129-135. 

Luxembourg B, Kemkes-Matthes B. Praktische Fragen im Umgang mit oralen Antikoagulantien. CME 2018;15:9-18. 

Maegele M, Grottke O, Schöchl H, Sakowitz O, Spannagl M, Koscielny J. Direkte orale Antikoagulanzien in der traumatologischen Notaufnahme. Dtsch Arztebl International 2016;113:575-582. 

Moll S, Dietz R. Quick-Wert und INR. Dtsch Arztebl International 1999;96:A-2902. 

Perrey M, Reinsch N, Erbel R. Neue orale Antikoagulanzien: Hoffnungsvoll, aber noch fehlen Langzeiterfahrungen. Dtsch Arztebl International 2013;110:[4]. 

Richter-Kuhlmann E. Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern: Unterschiedliche Empfehlungen. Dtsch Arztebl International 2017;114:A-2386. 

Schlitt A, Jámbor C, Spannagl M, Gogarten W, Schilling T, Zwißler B. Perioperativer Umgang mit Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern. Dtsch Arztebl International 2013;110:525-532. 

Steiner T. Neue direkte Orale Antikoagulanzien: Was im Notfall zu beachten ist. Dtsch Arztebl International 2012;109:A-1928-A-1930. 

Die ausführliche Ausarbeitung des Themas in der Rubrik  „kurz & schmerzlos“ finden Sie im PDF.