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„Das chronologische Alter ist kein guter Maßstab!“

Neue S2k-Leitlinie „Implantatversorgung im fortgeschrittenen Lebensalter“


Als vor zwei Jahrzehnten die ersten Fachmagazine und Fortbildungsveranstaltungen aufkamen, die sich gezielt mit „geriatrischer Zahnheilkunde“ beschäftigten, verdrehten etliche die Augen, wieso ein medizinisches Nischengebiet wie die Zahnmedizin sich so verzweifelt weitere Nischen suchen müsse. Jene Nische mit all ihren ganzheitlichen Besonderheiten bildet in manchen Praxen heute aber mehr als 80% des Patientenstamms, und so liegt nahe, sich auch für die Implantatversorgung innerhalb einer neuen S2k-Leitlinie eingehend mit dieser Zielgruppe zu befassen.  

Interview mit Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas, und Prof. Dr. Samir Abou-Ayash, beide Universität Mainz


Welches war für Sie persönlich die überraschendste Erkenntnis der aktuellen Leitlinie zur Implantatversorgung im fortgeschrittenen Lebensalter?

Samir Abou-Ayash: Einst galt die Regel „Ab 65 beginnt das Alter“. So kann man das aber heute nicht mehr unterschreiben. Wir müssen uns angewöhnen, die Patientinnen und Patienten im fortgeschrittenen Alter mehr nach ´geriatrisch´und ´nicht-geriatrisch´zu qualifizieren, und die Behandlungskonzepte konsequent individuell anzupassen.

Bilal Al-Nawas: Als Dogma dieser Leitlinie darf also gelten, dass das chronologische Alter an sich  kein guter Maßstab mehr ist. Dafür ist diese Patientengruppe einfach viel zu heterogen. Interessant fand ich daneben, dass die vorderhand naheliegende Annahme, älteren Patienten gehe es vermutlich mehr um die Funktion und weniger um die Ästhetik, ebenso wenig pauschal gilt. Der gesunde, wenig eingeschränkte ältere Patient darf nach denselben Kriterien, individuellen Bedürfnissen und damit auch ästhetischen Ansprüchen betrachtet werden wie ein junger Patient. Also sollte man auch nicht automatisch ab 65 + nur noch an herausnehmbaren Zahnersatz denken. Analysiere deinen Patienten und behandle ihn individuell!

Samir Abou-Ayash: Augenfällig war noch, dass Sofortversorgungskonzepte bei Älteren nicht weniger beliebt sind als beim Bevölkerungsdurchschnitt. Auch Sie warten einfach nicht mehr so gern.

Wie wichtig war es, bei den prothetischen Konzepten auch die langfristigen Perspektiven betagterer Patientinnen und Patienten einzubeziehen, z.B. die Weiterversorgung in Pflegeheimen oder der häuslichen Pflege?

Samir Abou-Ayash: Zunächst einmal geht es darum, die Patientinnen und Patienten so lange wie möglich in der Autonomie zu belassen, im Zweifel also durchaus auch von einem festsitzenden auf einen herausnehmbaren Zahnersatz umzustellen, wenn der Patient diesen dann selbständig besser pflegen kann. Grundsätzlich ist auch wichtig, bei Älteren nicht nur die chirurgische Phase, sondern die gesamte Patientenreise bis zum Abschluss der prothetischen Phase und deren Pflege bei der Planung einzuberechnen. Es nutzt wenig, wenn Sie bei einem stark eingeschränkten Patienten noch eine hoch anspruchsvolle Chirurgie unter Vollnarkose ansetzen können, er aber bei den Folgebehandlungen allein Probleme hätte, eine halbe Stunde den Mund geöffnet zu halten. Sehr wichtig ist auch, in der Planung schon die nahestehenden Angehörigen mit einzubeziehen. In den Heimen erfährt die Mundhygiene aus verschiedenen Gründen oft nicht die ihr zustehende Aufmerksamkeit. Hier müssen ganz neue Versorgungskonzepte her; z.B. geht die Stadt München aktuell besondere Kooperationen mit Pflegeeinrichtungen ein, damit ältere Patienten in diesem Bereich besser versorgt werden. Flexible prothetische Lösungen, die in den weiteren Phasen des fortschreitenden Alters angepasst werden können, sind in jedem Fall sinnvoll.

Die Gewöhnung an einen neuen Zahnersatz fällt älteren Menschen daneben naturgemäß weniger leicht als jüngeren Patienten. Bereits hier ist sinnvoll, schrittweise vorzugehen und den Patienten langsam und über einen längeren Zeitraum adaptieren zu lassen. Hierbei können uns übrigens die digitalen Prozesse exzellent unterstützen, um den Patienten sukzessive von seinem „alten Schuh“ in einen gutsitzenden neuen umzugewöhnen. 

Empfiehlt sich nach Ihren Erkenntnissen für diese Zielgruppe grundsätzlich eine viel weitreichendere interdisziplinäre Zusammenarbeit, nicht nur mit Internisten, Diabetologen, Rheumatologen, Gynäkologen und Orthopäden, sondern auch mit Ökotrophologen und Physiologen, um Behandlungsergebnisse dauerhaft abzusichern?

Bilal Al-Nawas: Das empfiehlt sich auch schon bei jüngeren Patienten, bei älteren sollten sicherlich zusätzlich auch Logopäden, Geriater und Ernährungsberater bei Bedarf hinzugezogen werden. Ein Patient, der sich zum Beispiel wegen seiner langjährig eingeschränkten Kauleistung dauerhaft schlecht ernährt hat, wird sich ohne eine Ernährungsschulung auch nach der Rehabilitation und einem deutlich verbesserten Kauvermögen nicht automatisch umstellen. Das ist einfach die Macht der Gewohnheit. 

Inwieweit kann man ältere Patientinnen und Patienten besser auf einen implantatchirurgischen Eingriff vorbereiten, um Risiken zu minimieren und die Erfolgsaussichten zu verbessern – was ist z.B. dran an dem Rat, den Patienten einen Monat vor OP-Datum täglich 20 Min. stramm spazieren gehen zu lassen, um die Durchblutung und das körperliche Gesamtbefinden zu verbessern?

Samir Abou-Ayash: Das ist eine sehr spannende Frage. Und genau der ´missing link´, an dem wir in meinen Augen gemeinsam in der nahen Zukunft verstärkt arbeiten müssen. Wir haben in vielen Bereichen immer noch Schwierigkeiten, die ´Medizin´ im Wort Zahnmedizin gebührend in den Vordergrund zu rücken. Es müssen noch viel mehr Brücken geschlagen werden zwischen der Allgemein- oder auch Fachmedizin und der Zahnmedizin. Besonders Patienten im fortgeschrittenen Lebensalter bieten für ein verstärktes Engagement im Wechselspiel von Allgemein- und Zahngesundheit natürlich ein dankbares Forschungs- und Therapiefeld. In diesem Bereich gibt es auf beiden Seiten noch viel zu tun, und hier liegen sicherlich viele und vielversprechende neue Ansätze.

Herzliches Danke für Ihre Zeit und dieses Gespräch.