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Die elektronische Patientenakte – wird sie zum teuren Scherz degradiert?

Nach mehr als 20 Jahren Vorlaufzeit ist die elektronische Patientenakte (ePA) am 29.04.2025 bundesweit gestartet, jedenfalls potenziell. Die Einführung soll bis Ende Oktober 2025 abgeschlossen sein. Der deutsche Hausärzteverband befürchtet bereits eine Bruchlandung. Techniker Krankenkasse, Barmer und Allgemeine Ortskrankenkassen berichten im Juli 2025 bei gut 44 Mio. eingerichteten ePAs über eine aktive Nutzung von 1,2 Mio., also 3 %. Hingewiesen wird für die geringe Nutzungsintensität u.a. auf die komplizierte Registrierung. Derweil befürchtet die Bundesbeauftragte für den Datenschutz schon das Schlimmste.

Wofür hatte man denn an die ePA gedacht?

Die Behandlung von Patienten kann im Einzelfall sehr zeitkritisch sein, was vor allem bei Notfällen gilt. Die aktuell erforderlich erscheinende Behandlung kann mit allen möglichen Krankheiten kollidieren, die der Patient hat, oder Medikamenten, die er einnimmt. Wer sich je die Anamnesebögen detailliert (weil ein Haftungsprozess läuft) ansieht, die die Patienten in den Praxen ausfüllen, wird feststellen, wie viel da jeweils an Angaben fehlt, ohne dass der Behandler das Defizit auch nur erkennen konnte. Meist werden die fehlenden Angaben nicht unterlassen, weil der Patient das nicht wissen lassen möchte, sondern weil der Patient es nicht als präsentes Wissen mit sich herumträgt oder denkt, die Information sei für die anstehende Behandlung nicht von Bedeutung. Fragen Sie mal einen Diabetiker nach seinen aktuellen Blutfettwerten. Obwohl von großer Bedeutung für eine Behandlung, können nur die wenigsten die Frage aus dem Stegreif beantworten. Die Antwort „oh Doktor, da henn’se mi was g’fragt“, egal in welchem Dialekt, ist typisch und unvermeidlich. Es gibt auch nicht den Ausweg, durch intensive Befragungen aus dem sich nicht erinnernden Patienten einen Patienten mit intensiver und (das wäre entscheidend) richtiger Kenntnis seiner Krankheitsgeschichte zu machen, und das nicht aus Zeitgründen, sondern weil das notwendige Wissen weder präsent ist noch der Patient als Laie in der Regel auch nur näherungsweise beurteilen kann, was denn in seiner Behandlungssituation für die Behandlerseite relevant ist.

Das Problem jeder ärztlichen Behandlung, auch der zahnärztlichen, ist das Vorhandensein oder Fehlen von Information. Information als solche reicht selten, sie muss auch wahr, also verlässlich, und möglichst vollständig sein. Wenn gute Behandlungsqualität erreicht, bestehende verbessert werden soll, dann muss der Behandler wissen, welche konkreten Aspekte bei dem konkreten Patienten zu guter Behandlungsqualität führen dürften, und welche das Gegenteil erreichen könnten.

Das könnte man sich von einer ePA erwarten, auf der alle Gesundheitsdaten des Patienten inkl. der Diagnosen nach ICD-10, die Behandlungen, die bisher durchgeführt wurden, die Ärzte, bei denen er war (z.B. für Rückfragen), die Medikamente, die er einnimmt oder in der Vergangenheit eingenommen hat (bei vielen Arzneimitteln ist mit Nachwirkungen zu rechnen, wenn neue Arzneimittel eingenommen werden), die Röntgenbilder und sonstigen bildgebenden Untersuchungsbefunde gespeichert sind. Sie würde die oft genug in die Irre führenden Angaben des Patienten ersparen oder jedenfalls nachprüfbar machen. Eine so gestrickte ePA hätte in Kombination mit einer Auswertungssoftware auf KI-Basis sofort Red Flags für die Behandlungssituation aufgezeigt und künftig vielleicht auch hilfreiche Tipps für das weitere Vorgehen gegeben. Die Röntgenbilder etc. von Vorbehandlern wären vorhanden, Unterschiede zur Ist-Situation einfach am Bildschirm feststellbar. Die Behandlung würde von einem ganz anderen Niveau aus starten können, als dies bisher der Fall ist. Der Qualität der Behandlung sollte dies guttun. Behandlungsziele sollten leichter formuliert und auf Realisierbarkeit analysiert werden können, das Gespräch mit dem Patienten wäre fakten- und nicht annahmen- oder gar wunschbasiert, weil die Behandlungsvorgeschichte bekannt wäre. Nutznießer wäre vor allem der Patient. Da der Patient das Gesundheitswesen jedenfalls als Kassenpatient kostenlos in Anspruch nimmt, ist auch nicht zu viel verlangt, dass man seine Daten im Gesundheitswesen nutzen darf.

Das sieht die Bundesbeauftragte für den Datenschutz Frau Louisa Specht-Riemenschneider offenbar grundlegend anders. Sie hat dazu aufgerufen, für die Patienten noch detailliertere Möglichkeiten zu schaffen, in der von ihnen selbst per App geführten E-Akte festzulegen, welcher Arzt welches einzelne Dokument einsehen kann. Sie will verhindert wissen, dass der Orthopäde aus der ePA entnehmen kann, dass der Patient in psychotherapeutischer Behandlung ist. Es geht in der Praxis im Wesentlichen um die sogenannten F-Diagnosen (Kapitel V des ICD-10: Psychische und Verhaltensstörungen) und die A- und B-Diagnosen im Kapitel I des ICD-10, wozu u.a. alle sexuell übertragbaren Krankheiten gehören.

Zu wissen, ob bei einem Patienten Diagnosen aus dem V. Kapitel des ICD-10 vorliegen, ist für die Zahnheilkunde von besonderer Bedeutung, stellt sich diese Thematik doch in zahlreichen Haftungsfällen aus dem Bereich der Prothetik, wo gute fachliche Leistung auf Patientenhaltungen trifft, die man nur mit entsprechenden Pathologien erklären kann. Hätte man diese bei Behandlungsbeginn gekannt, wäre die Behandlung in der Regel sehr viel weniger aufwendig oder auch mal gar nicht durchgeführt worden; denn der Patientenwunsch nach aufwendigen Versorgungen relativiert sich vor dem Hintergrund von F-Diagnosen für den Behandler dann doch rasch. In Wilhelm Buschs Max und Moritz lautet der warnende Spruch gleich zu Beginn: „Aber wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.“ Behandlern und Patienten würde viel erspart, wenn es seitens der Patienten in der Behandlung eine Wahrheitspflicht gäbe. Die Probleme in der zahnärztlichen Prothetik hängen vermutlich nicht nur anekdotisch mit der Nähe der Kiefer zum Gehirn zusammen.

Wenn die ePA-Daten nicht sicher vollständig und wahr sind, helfen sie in allen kritischen Situationen nicht. Da ex ante selten erkennbar wird, wann die Dinge kritisch werden, ist keine Mehrfachuntersuchung vermeidbar und man agiert aufs Geratewohl.

Die ePA ist ein Behandlungs-, kein Wohlfühlinstrument. Es ist eine wichtige Aufgabe des Berufstands, dafür einzutreten, dass die Daten vollständig vorliegen müssen. Das, und nur das, dient dem Wohl des Patienten, der in der Behandlungssituation froh ist, dass man ihm sachgerecht hilft, und dann die Dinge idR ganz anders sieht, als aus der Distanz des Bürgers ohne Behandlungsnotwendigkeit. Man denke nur an die Aufklärungspflichten. Der Bürger will als Patient typischerweise behandelt, nicht vollgequatscht werden. Die ganzen hehren Erwartungshaltungen, mit denen die Rechtsprechung die Aufklärungspflichten begründet, interessieren nur nicht akut Behandlungsbedürftige. Das ist eine Binsenweisheit der Medizin, eine Ungerechtigkeit, dass die Rechtsprechung das ignoriert, und Unvermögen, dass die Medizin diese Ignoranz toleriert.

Die Vorstellung, dass der Patient mit Beschneidungen der ePA-Information unverändert weiter steuern dürfen soll, wie viel er von den raren Ressourcen des Gesundheitswesen unnötigerweise für sich verbrauchen darf, hat schon etwas Bizarres. Ebenso, dass die Behandlerseite die Leidtragende sein soll, wenn als Folge unzureichender Informationen die Behandlung nicht optimal läuft. Fordert die Bundesbeauftragte für den Datenschutz für diesen Fall etwa, dass das gesundheitliche Risiko der Datennutzungsbeschränkung beim Patienten verbleibe? Nein. Das soll die Behandlerseite weiter tragen.

Eine ePA ohne Informationssicherheit für die Behandlerseite hat auch keine für die Patientenseite – und verkäme zum teuren Scherz. Wir brauchen für das Gesundheitswesen eine komplette Bereichsausnahme aus der DSGVO. Diese Auffassung vertrete ich seit jeher. Ich habe noch kein zwingendes Gegenargument gehört. Datenschutz kontra Gesundheitsschutz – das darf sich kein Staat leisten. 

Prof. Dr. Thomas Ratajczak

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Sozialrecht, Justiziar des BDIZ EDI

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