hero-ribbon

Neuigkeiten zur IDS hier auf www.frag-pip.de

Erarbeitung von Leitlinien

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) in einer Entscheidung vom 14.03.2024 – C-291/22 P – eine kräftige Ohrfeige verpasst. Dabei ging es im Kern um die Frage, wie die EMA-Gutachter in Arzneimittelzulassungsverfahren auswählt und welche externen Sachverständigen sie beizieht. Das Thema betrifft generell das Verhältnis von Sachverstand und Kontrolle und eignet sich auch, um die deutsche Leitlinienerstellungspraxis zu erneuern.

Im Verfahren ging es um eine von der Europäischen Kommission verweigerte Zulassung für das Medikament Hopveus (Natriumoxybat) zur mittel- und langfristigen Bekämpfung von Alkoholabhängigkeit des Herstellers Debregeas et associés Pharma (D & A). Grundlage für die Ablehnung war ein Gutachten des EMA-Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) und einer von der Behörde einberufenen Ad-hoc-Sachverständigengruppe. D & A hatte vergeblich gerügt, einzelne Mitglieder der Sachverständigengruppe seien nicht unabhängig, sondern von Interessenkonflikten geprägt gewesen. Mit der Klage scheiterte D & A in erster Instanz beim Gericht der Europäischen Union (EuG, Urteil vom 02.03.2022, AZ: T-556/20). Das EuG sah den Nachweis von Interessenkonflikten als nicht erbracht an. Anders der EuGH.

Der EuGH erinnert daran, dass das in Art. 41 der europäischen Grundrechtecharta verankerte Grundrecht auf eine gute Verwaltung das Recht jeder Person einschließt, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union unparteiisch behandelt werden, und dass dazu auch gehöre, ausreichende Garantien zu bieten, um jeden berechtigten Zweifel hinsichtlich etwaiger Vorurteile auszuschließen. Die objektive Unparteilichkeit der EMA sei beeinträchtigt, wenn sich aus einer Ämterkollision ein Interessenkonflikt bei einem der Mitglieder des CHMP ergeben könne, und zwar unabhängig vom persönlichen Verhalten dieses Mitglieds. Ein solcher Verstoß könne zur Rechtswidrigkeit des am Ende des Verfahrens von der Kommission erlassenen Beschlusses führen. Die objektive Unparteilichkeit des CHMP werde auch dann beeinträchtigt, wenn ein Sachverständiger, der sich in einem Interessenkonflikt befinde, zu der Sachverständigengruppe gehöre, die vom CHMP im Rahmen der Überprüfung konsultiert werde, die zum Gutachten der EMA und zum Beschluss der Kommission über den Zulassungsantrag führt. Die Meinungsäußerung der vom CHMP einberufenen Sachverständigengruppe habe einen potenziell entscheidenden Einfluss auf das Gutachten der EMA und mittels dieses Gutachtens auf den Beschluss der Kommission. Jedes Mitglied dieser Gruppe könne die vertraulichen Erörterungen und Beratungen in dieser Gruppe, unter Umständen erheblich, beeinflussen. Folglich entstehe dadurch, dass eine Person, die sich in einem Interessenkonflikt befinde, an einer vom CHMP einberufenen Sachverständigengruppe teilnehme, eine Situation, die keine ausreichenden Garantien biete, um jeden berechtigten Zweifel hinsichtlich etwaiger Vorurteile auszuschließen.

Der EuGH sieht die EMA in der Pflicht, die Interessenkonflikte selbst zu ermitteln und daraus Konsequenzen zu ziehen. Bei einem der Ad-hoc-Sachverständigen wurde festgestellt, dass er bei der europäischen klinischen Phase-3-Studie „leitender Forscher“ bei einem Konkurrenzprodukt war. Der EuGH verlangt den Ausschluss bei Interessenkonflikten, nicht nur das Nichtabstimmen oder die stimmrechtslose Teilnahme an Beratungssitzungen.

Wer deutsche Leitlinien, insbesondere die Leitlinienreporte und die Statements zu Interessenkonflikten liest, wer sich noch zudem mit der Materie vertieft auskennt, die Gegenstand der Leitlinienerarbeitung ist, wünschte sich, dass sich die AWMF künftig an diese Vorgaben des EuGH hält und keine Leitlinien akzeptiert, bei deren Erarbeitung Personen mit Interessenkonflikten beteiligt waren. Das würde erfordern, dass die AWMF ihre Rolle nicht nur im bürokratischen Abwickeln sieht, sondern in der Gewährleistung der Unparteilichkeit der Leitliniengruppe. Das ist meines Erachtens dringlich.

Prof. Dr. Thomas Ratajczak

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Sozialrecht, Justiziar des BDIZ EDI

Email: ratajczak@rpmed.de
Web: www.rpmed.de