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Implantate wegen Würgereiz?

Der Versuch, gesetzlich krankenversicherten Patienten eine Implantatversorgung zu Lasten ihrer Krankenkasse zu besorgen, treibt viele Zahnärztinnen und Zahnärzte um. Ein Klassiker in der Argumentation ist dabei der Würgereiz des Patienten, der eine herausnehmbare Versorgung mit Gaumenbügel verbiete.

Bild: Die Gaumenplatte in einer Prothese zum Ersatz fehlender Zähne im Oberkiefer kann einen Störfaktor darstellen.

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hatte sich in einem Urteil vom 17.08.2020 – L 9 KR 12/18 – mit einem solchen Fall zu beschäftigen. Dem Patienten (Jahrgang 1956) fehlten insgesamt 16 Zähne, davon sieben im Oberkiefer. Die behandelnden Kieferchirurgen begründeten die Notwendigkeit einer Versorgung mit drei Implantaten im Oberkiefer damit, dass ein Zahnersatz ohne Gaumenabdeckung befestigt werden könne. Es bestehe wegen des extremen Würgereizes eine Ausnahmeindikation.

Die Krankenkasse lehnte den Antrag ab, allerdings nicht rechtzeitig nach den Vorgaben des § 13 Abs. 3a SGB V. Das hätte früher dazu geführt, dass die abgelehnte Versorgung hätte bezahlt werden müssen. Seit den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – und vom 18.06.2020 – B 3 KR 14/18 R – (u.a.) gilt dies nur noch, wenn der Patient die Behandlung dann auch tatsächlich (zunächst auf eigene Kosten) hat durchführen lassen, nicht aber, wenn er wie im vorliegenden Fall erst einmal darauf wartet, dass seine Klage gegen die Krankenkasse vor Gericht Erfolg hat. Die Klage wurde gestützt auf die letzte Kategorie der Ausnahmeindikationen in den Richtlinien zu § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V: „sowie bei nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich (z.B. Spastiken)“. Was damit eigentlich gemeint ist, ist bisher in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt.

Das LSG führt dazu aus

„Es ist bereits zweifelhaft, ob der Würgereiz oder Brechreiz eine nicht willentlich beeinflussbare muskuläre Fehlfunktion im Mund- und Gesichtsbereich ist oder bereits deshalb nicht erfasst ist, weil er als vegetativ oder psychomotorisch bedingte Störung der Rachenmuskulatur einzuordnen ist. Ein Würge- reiz oder Rachenreflex des Menschen ist primär ein normaler Abwehrmechanismus, der das Eindringen von Fremdkörpern in den Rachen (Pharynx), den Kehlkopf (Larynx) oder die Luftröhre (Trachea) verhindern kann und der durch ein taktiles Stimulieren des weichen Gaumens, der Zunge und von Teilen des Rachens ausgelöst wird. Dieser physiologische Reflex wird durch den Parasympathikus des vegetativen Nervensystems kontrolliert und ist dem Nervus glossopharyngeus und dem Nervus vagus zugeordnet. Über diese beiden Nerven werden intraorale Reize in die Medulla oblongata (Hirnstamm) geleitet und das Brechzentrum gereizt. Dies führt zu einem reflektorischen Anheben der Zunge und einer Kontraktion der Rachenmuskulatur. Folglich ist der Rachen betroffen und nicht der o. g. Mund- und Gesichtsbereich, wie es z. B. bei Spastiken der Fall ist. Vom Würgereiz ist nicht der Mund- und Gesichtsbereich, sondern der Schlundbereich, also der Halsbereich betroffen“ (Rz. 39).

Nach Ansicht des LSG gehört eine psychologisch bedingte Fehlfunktion wie ein psychogen verursachter Würgereiz nicht ohne Weiteres zu den nicht willentlich beeinflussbaren muskulären Fehlfunktionen im Mund- und Gesichtsbereich (Rz. 40). Es sieht beim Patienten eine „psychogene Prothesenintoleranz“ als gegeben (Rz. 42), lehnt deren Gleichstellung mit einer muskulären Fehlfunktion aber ab, jedenfalls wenn – wie hier – nach Ansicht des Gutachters eine alternative Behandlung des Würgereflexes durch eine systematische Desensibilisierung und Entspannungsübungen trotz der Vorerkrankungen des Klägers (Alkoholkrankheit und Schizophrenie) grundsätzlich möglich, wenn auch mit unsicherer Prognose behaftet sind (Rz. 43).

Bei den meisten Anträgen nach § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V wird in der Praxis übersehen, dass die Implantatversorgung im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung erforderlich sein muss. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinaus gehendes medizinisches Gesamtziel muss nach der Rechtsprechung der Behandlung ihr „Gepräge“ geben. Der Anspruch besteht nicht bereits dann, wenn Implantate zahnmedizinisch geboten sind. Eine medizinische Gesamtbehandlung liegt somit nicht schon dann vor, wenn dem Behandlungsplan des Zahnarztes ein Gesamtkonzept zur Wiederherstellung der Kaufunktion des Patienten zu entnehmen ist. Auch eine drohende Zahnlosigkeit begründet keine (weitere) Ausnahmeindikation (BSG, 04.03.2014 – B 1 KR 6/13 R –, Rz. 14, 17).

Wenn die Ermöglichung der Abstützung von Zahnersatz durch Implantate das einzige oder das hauptsächliche Behandlungsziel ist, sind die Kosten des Implantats vom Kassenpatienten selbst zu tragen. Da im vorliegenden Fall die Implantatversorgung allein der Wiederherstellung der Kaufunktion dienen sollte, war sie nach Ansicht des LSG nicht in eine „gesamthafte Behandlung“ eingebettet und daher von der Krankenkasse nicht zu bezahlen (Rz. 46).

Die Entscheidung des LSG fügt sich ein in eine Vielzahl von Entscheidungen der Sozialgerichtsbarkeit, die sich seit langem dagegen wehrt, dass über psychiatrische Begründungen das Regelwerk der gesetzlichen Krankenversicherung ausgehebelt wird. Für die Behandlung psychischer Probleme sind weder die Chirurgen noch die Zahnmediziner, sondern die Psychiater und Psychotherapeuten zuständig – ggf. im Team, auch wenn das noch ungewohnt ist.

Kontakt Autor

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Sozialrecht, Justiziar des BDIZ EDI
Kanzlei Ratajczak & Partner Rechtsanwälte mbB
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