Ein Zwölfjahres-Review
Implantat-prothetische Versorgungen setzen suffiziente knöcherne und weichgewebliche Strukturen voraus. Gerade im bukkalen Anteil der Oberkieferfront resultiert nach Zahnextraktion aufgrund der physiologischen Umbauprozesse ein vertikales & horizontales Knochendefizit. Das reduzierte Knochenangebot erschwert die implantatprothetische Therapie und beeinträchtigt die Vorhersagbarkeit des funktionellen und ästhetischen Ergebnisses. Die Alveolar Ridge Preservation (ARP) hat sich als effektive Maßnahme etabliert, um diesen Resorptionsprozessen präventiv entgegenzuwirken (Abb. 1).
Biologische Grundlagen
Nach Zahnextraktion können innerhalb der ersten sechs Monate ca. 50 % des umgebenden Knochen- und Weichgewebevolumens verloren gehen [1]. Es ist daher essenziell, den Volumenerhalt des Kieferkamms sicherzustellen, um langfristig eine hohe Implantatüberlebensrate zu gewährleisten [2,3]. Das Parodont als physiologische Einheit aus Gingiva, Wurzelzement, Desmodont und Alveolarknochen unterliegt nach Zahnentfernung den unaufhaltsamen Umbau- und Remodellierungsprozessen [4]. Der sogenannte Bündelknochen (bundle-bone), in den die kollagenen Sharpey’schen Fasern des Desmodont einstrahlen, ist vom Zahn in der Alveole abhängig. Mit der Extraktion beginnen hier die Umbauprozesse und damit die Dimensionsveränderungen [5]. Diese sind horizontal ausgeprägter als vertikal und betreffen den bukkalen Anteil des Alveolarfortsatzes signifikant höher als den oralen. Der vestibuläre Verlust erklärt sich durch die geringe Dicke der bukkalen Lamelle (ca. 0,8 mm [5]) und dass der krestale Anteil aus reinem Bündelknochen besteht, der in toto resorbiert und ggf. durch Geflechtknochen ersetzt wird. Innerhalb von acht Wochen kann bukkal ein vertikales Defizit bis zu zwei Millimetern entstehen [5].
Kammerhaltende Maßnahmen – Alveolar Ridge Preservation
Unter kieferkammerhaltenden Maßnahmen werden verschiedene Begriffe synonym verwendet. Der Begriff der Socket Preservation wird für Maßnahmen in der knöchern nicht kompromittierten Extraktionsalveole eingesetzt, während die Ridge Preservation bzw. Alveolar Ridge Preservation bei der Rekonstruktion größerer knöcherner Defekte nach Extraktion verwendet wird. Die ARP reduziert die physiologische Resorption nach Zahnextraktion in allen Raumrichtungen und erhöht die Knochendichte im mittleren und apikalen Alveolenbereich signifikant [6]. Die reduzierten Knochenverluste verringern den Bedarf an zusätzlichen Augmentationsmaßnahmen zur Implantation [7]. Im Vergleich zur einfachen frei granulierenden Alveole wird nach Anwendung der Alveolar Ridge Preservation die Häufigkeit einer GBR zur Implantation um über 50 % reduziert [8]. Bei Anwendung xenogener, langsam resorbierbarer KEM kann laut Studien sogar einen Volumenzuwachs erzielt werden [9,10].
Klinisches Fallbeispiel
Die Patientin stellte sich nach frühkindlichem Trauma (Fahrradsturz im elften Lebensjahr mit Avulsion und Replantation von Zahn 21) und konservierend-kieferorthopädischer Vorbehandlung im Alter von 18 Jahren in unserer Praxis vor. Es bestanden keine anamnestischen Auffälligkeiten. Klinisch zeigten sich eine endodontisch bedingte Verfärbung und Lockerung von Zahn 21 (Abb. 2), röntgenologisch eine reduzierte knöcherne Verankerung mit V.a. periapikale Resorptionsprozesse (Abb. 3). Aufgrund der fehlenden positiven Langzeitprognose für den Zahnerhalt erfolgte nach Beratung die Entscheidung zur Einzelzahnimplantation mit vorangestellter ARP.
Chirurgisches Vorgehen
1. Zahnextraktion & ARP
Die Extraktion erfolgte atraumatisch unter Schonung der Weichgewebe (Abb. 4). Intraoperativ zeigte sich ein vertikales Knochendefizit der bukkalen Lamelle von ca. 7–9 mm (Abb. 5). Nach Säuberung der Alveole und Entfernung von Granulationsgewebe wurde ein Geistlich Bio-Oss Collagen Block (100 mg, Geistlich Biomaterials) zur Volumenstabilisierung in die Alveole eingebracht und heilte offen ohne Nahtverschluss ein (Abb. 5-6). Die temporäre Versorgung erfolgte direkt mittels Miniplastschiene mit ausgeformtem Komposit-Pontic (Abb. 7).
2. Implantation nach vier Monaten
Die Kontrolle nach vier Monaten zeigte stabile Hart- und Weichgewebeverhältnisse (Abb. 9, 10). Die Implantation (Camlog Cylinder-Line, Ø 3,8 mm, L 13 mm) wurde prothetisch orientiert durchgeführt (Abb. 11). Das vestibuläre Defizit wurde durch Anwendung einer GBR mit Bio-Oss Granulat und Bio-Gide Membran (beide Geistlich Biomaterials) augmentiert (Abb. 12, 13). Der Wundverschluss erfolgte speicheldicht (Abb. 14). Die postoperative Röntgenkontrolle zeigte eine regelrechte Insertion des Implantates (Abb. 15).
3. Freilegung mittels Rolllappentechnik
Nach einer Einheilzeit von 4,5 Monaten wurde das osseointegrierte Implantat durch Anwendung der Rolllappentechnik nach Abraham freigelegt. Hierzu wurde ein transponierter Weichgewebslappen von palatinal in die vestibuläre Zone rotiert, um eine horizontale Weichgewebeverdickung zu erzielen (Abb. 16, 17). Die Ausformung der Weichgewebe mittels Gingivaformer verlief komplikationslos.
Langzeitverlauf – Zwölf Jahre postoperativ
Ein Jahr postoperativ bestanden stabile Gewebeverhältnisse mit harmonischem Emergenzprofil bei dünn ausgeprägtem Biotyp (Abb. 18, 19). Nach zwölf Jahren zeigte sich vestibulär nur ein minimaler Volumenverlust (~1 mm), bedingt durch ein tief inserierendes Lippenbändchen, das später chirurgisch korrigiert wurde. Röntgenologisch waren keine pathologischen periimplantären Defekte sichtbar (Abb. 20, 21).
Schlussfolgerung
Die Alveolar Ridge Preservation hat sich als wirkungsvolles Verfahren zum präventiven Erhalt des alveolären Kieferkamms nach Zahnextraktion etabliert. Sie ermöglicht den Erhalt der Hart- und Weichgewebsdimensionen sowie eines stabilen Kammvolumens, was nicht nur die ästhetisch-funktionellen Voraussetzungen für eine spätere Implantation verbessert, sondern auch die Planungssicherheit im Rahmen der prothetischen Rehabilitation erhöht. Durch die gezielte Anwendung der ARP lassen sich invasive augmentative Folgeeingriffe – wie Sinuslift oder GBR – in vielen Fällen vermeiden oder in ihrem Umfang und ihrer Komplexität deutlich reduzieren. Dies führt zu einer signifikanten Reduktion der Morbidität sowie der Gesamtkosten für die Patienten. Klinisch empfiehlt sich der Einsatz langsam resorbierender Biomaterialien (bevorzugt xenogene oder allogene Materialien), da diese eine langfristige Volumenstabilität sicherstellen. Insgesamt stellt die ARP ein wirkungsvolles, evidenzbasiertes Verfahren dar, das die funktionellen und ästhetischen Ergebnisse in unserer implantatprothetischen Therapie langfristig verbessert.
Autoren

Dr. med. Jörg-Ulf Wiegner
- 1982-1987 Studium der Zahnheilkunde an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
- 1987-1992 Studium der Humanmedizin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
- 1990 Promotion zum Dr. med.
- 1987-1992 Facharztweiterbildung an der Klinik für MKG-Chirurgie u. Plastische Chirurgie der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Direktor Prof. Dr. Dr. D. Schumann)
- 1992 Facharztanerkennung als Arzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie
- Seit 1992 ambulante und belegärztliche Tätigkeit in niedergelassener Praxis in Saalfeld (Thüringen)

ZA Bastian Döhler
- 2015-2020 Studium der Zahnmedizin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
- 2021-2023 Vorbereitungsassistent & angestellter Zahnarzt in allgemein-zahnärztlicher Praxis Andreas Reichel (Elgersburg, Thüringen)
- 2023-2024 Curriculum Implantologie der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI)
- Seit 2024 Weiterbildungsassistent zum Fachzahnarzt für Oralchirurgie in den Saalepraxen

![1 Implantatüberlebensraten bei Implantationen mit und ohne Alveolenmanagement [3].](https://frag-pip.de/wp-content/uploads/2025/10/fallstudie_wiegner-doehler_5_2025_Abb.1.jpg)



















