hero-ribbon

Neuigkeiten zur IDS hier auf www.frag-pip.de

Knochenersatzmaterial: Alternativen zum Goldstandard

Obwohl das Potenzial von Knochenersatzmaterial in der Implantologie unbestritten hoch ist, wird immer wieder heiß diskutiert, welches Knochenersatzmaterial sich am besten eignet. Vor allem allogene KEM rücken Kliniken und Praxen immer mehr in den Fokus.

Interview mit Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Peer Kämmerer, stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für MKG-Chirurgie, Uniklinik Mainz

Die Frage, Allografts oder herkömmliche Knochenersatzmaterialien, wird oftmals sehr emotional diskutiert. Welche Eigenschaften sollte ein Material für die Augmentation von Kieferdefekten generell haben?

Wir sind uns alle einig, dass der Eigenknochen klassisch betrachtet den Goldstandard für implantologische Augmentationen darstellt. Er ist osteoinduktiv, osteokonduktiv und osteogenetisch wirksam. Nur leider ist er manchmal nicht ganz so stabil wie wir ihn uns wünschen – insbesondere, wenn er in partikulierter Form angewendet wird. Außerdem ist er auch nicht unbegrenzt verfügbar und ohne jegliche Morbidität zu generieren. Hier kommen verschiedene Knochenersatzmaterialien zum Zuge, die spezielle Eigenschaften adressieren, ohne an anderer Stelle entnommen werden zu müssen und so zum Beispiel eine deutlich bessere Volumenstabilität als der Eigenknochen mitbringen. Die eher historische Forderung nach vollständiger Resorbierbarkeit steht dem gewissermaßen im Wege, da man durch eine sehr langsame oder fehlende Resorbierbarkeit ebenfalls ein knöchernes Regenerat langfristig stabilisieren kann. Auf der anderen Seite wünschen wir uns aber auch manchmal ein Material aus der Packung, was den Eigenschaften des Eigenknochens ganz besonders nah kommt – und da sind wir schon bei den Allografts.

Welche Argumente könnten noch gegen den Eigenknochen als Mittel der Wahl aufgeführt werden?

Wie eben schon erwähnt, ist das größte Problem des Eigenknochens, dass er auch irgendwo entnommen werden muss. Je nach Entnahmestelle ist hier bereits eine gewisse Limitation in der Menge gegeben. Natürlich können wir auch größere Volumina beispielsweise für eine Vier-Quadranten-Rehabilitation aus dem Beckenkamm entnehmen – hier ist jedoch direkt eine Vollnarkose von Nöten, und auch die perioperative Belastung wird größer. Manche Patienten brauchen dann lange, um wieder normal gehen zu können. Dennoch haben wir mit dem Beckenkamm eine Möglichkeit, auch sehr ausgedehnte Defekte unter schwierigen Bedingungen vorhersagbar zu rehabilitieren. Wenn wir an intraorale Entnahmestellen denken, ist bei separater Entnahme auch hier eine vermehrte Belastung zu erwarten – zusätzlich kann auch die Gefahr einer Kontamination bei der Entnahme nicht immer zu 100 Prozent ausgeschlossen werden.

Kein Patient mag eine retromolare Blockentnahme oder dass man die gesamte Kinnmuskulatur abpräpariert, um an sein eigenes Gewebe zu kommen. Hier stellen die Knochenersatzmaterialien – wenn das Transplantatlager es erlaubt – eine sehr gute Alternative dar.

Welche Vorteile sehen Sie bei allogenem KEM und bei welchen Indikationen verwenden Sie dieses Material?

Die Vorteile der Verwendung von Spenderknochen liegt in der sehr knochennahen Zusammensetzung des Materials. Es ist eben menschlicher Knochen und unterstützt durch die in der Matrix belassenen Kollagenanteile auf sehr natürlichem Wege die Knochenregeneration. Somit haben wir bis auf die Osteogenität und Osteoinduktion – also das Belassen vitaler Zellen und der in der Matrix enthaltenen BMPs – ein ideales Material für die Anlagerung von Serumproteinen, die Proliferation von Zellen und der Apposition von neuem Knochen. Zudem sind die Materialien vollständig resorbierbar, sodass man nach ein bis zwei Jahren gar nicht mehr histologisch unterscheiden kann, ob mit eigenem Knochen oder mit Spenderknochen augmentiert wurde. Ein weiterer wichtiger Vorteil ist aber auch die Anwendbarkeit in anderen Formen als einfach nur als Granulat. Durch das enthaltene Kollagen bleibt das Material flexibel, sodass wir bekannte chirurgische Prinzipien wie die Block- oder auch Schalentechnik sehr einfach auf die Materialien übertragen können.

Wie sicher sind inzwischen die Kontrollinstrumente bei der Beschaffungskette, sowohl in ethischer als auch qualitativer Hinsicht?

Bei den vier großen Herstellern von Allografts in Deutschland erfolgt eine stetige Kontrolle der Lieferkette menschlichen Gewebes als auch der weiteren Aufbereitung. Die Entnahme beispielsweise von Hüftköpfen bei der Hüftgelenksendoprothetik darf nur durch zertifizierte Zentren erfolgen, die Untersuchungen der Spender erfolgen standardisiert und auch die weitere Aufbereitung wird vom Paul Ehrlich Institut überwacht. Zudem sind in Europa nur prozessierte Spenderknochen erhältlich. Diese haben noch nie eine Infektionsübertragung verursacht. Wenn über Infektionsrisiken diskutiert wird, so sind diese ausschließlich ein Resultat der Verwendung nicht prozessierter Gewebe, wie es beispielsweise als frisch gefrorener und kryokonservierter Knochen in den USA zum Einsatz kommt. Hierzulande sind diese Materialien berechtigterweise gar nicht zugelassen.

Allografts sind in verschiedenen Formen, als Granulat, Block oder Platte erhältlich. Worauf sollten Kolleginnen und Kollegen bei der Auswahl der Form achten?

Das Interessante bei Allografts ist, dass man sie in klassischen Indikationen als Granulat als auch für die spezielleren Techniken in anderer Form anwenden kann. Für den Sinuslift und die Socket Preservation beispielsweise kommen Granulate zum Einsatz oder auch für laterale Augmentationen innerhalb der Kieferkammkontur. Geht man allerdings in die vertikale oder auch mal größer aus der Außenkontur des verbliebenen Kiefers heraus, muss man schon irgendeine Art der Stabilisierung gewährleisten. Denn man möchte den Knochen auch dort regenerieren, wo man ihn benötigt. Hier wurden Techniken wie titanverstärkte Membranen, die Sausage-Technik, der sticky bone oder auch Schirmschrauben und Mesh-Applikationen entwickelt, um trotzdem bei den Granulaten zu bleiben. Als Alternative bietet es sich aber an, die Stabilität aus dem Material selbst zu generieren. Dies ist mit den erhältlichen allogenen Schalen oder auch Platten sehr einfach möglich.

Fällt dann, wie von uns mit Priv.-Doz. Dr. Dr. Markus Schlee vor zehn Jahren publiziert, auch noch die Anpassung der Blöcke durch eine CAD/CAM-Technik weg – sie passen auf den jeweiligen Defekt wie die Faust aufs Auge –, werden komplexe Augmentationen plötzlich gar nicht mehr so kompliziert. Trotzdem sollte natürlich das Weichgewebsmanagement beherrscht werden, um eine komplikationslose Wundheilung zu ermöglichen. Bloß weil die Entnahme entfällt, heißt das noch lange nicht, dass eine dreidimensionale Augmentation nun zum Kinderspiel wird. Erfahrungen in der Verwendung von Schrauben oder das passende Weichgewebsmanagement, um das Augmentat spannungsfrei abzudecken, sollten beim Behandler natürlich auch vorliegen oder zumindest langsam erarbeitet werden.

Wie beurteilen Sie die wissenschaftliche Datenlage im Bereich Knochenersatzmaterialien? Gibt es speziell für Allografts ausreichend Evidenz?

Die Verwendung von Knochenersatzmaterialien für die Kieferdefektaugmentation ist – daran besteht sicherlich kein Zweifel – sehr gut dokumentiert. Wider Erwarten gilt dies auch für allogene Materialien. Insbesondere, wenn man sich große Übersichtsarbeiten ansieht. Wobei die Studien hier eher aus dem angloamerikanischen Raum stammen, während wir in Europa uns in der Vergangenheit eher auf die xenogenen und synthetischen Materialien fokussiert haben. Dies ändert sich aber gerade und es gibt auch von deutschen Anwendern und Universitätskliniken eine zunehmende Anzahl an Publikationen und Studien. So hat beispielsweise Prof. Dr. Dr. Peer Kämmerer von der Uniklinik Mainz kürzlich ein Paper mit begeisternden Ergebnissen nach allogener Schalentechnik bei über 350 Patienten publiziert. Ich bin mir sicher, dass insbesondere die Einführung von Allografts bei den beiden größten deutschen Implantat-Anbietern diesen Trend weiter vorantreiben wird und wir in Zukunft noch eine Menge über die faszinierenden Möglichkeiten dieser Materialien hören werden.

Lieber Herr Prof. Rothamel, vielen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch.