hero-ribbon

Neuigkeiten zur IDS hier auf www.frag-pip.de

Der künstliche Ersatz des Kiefergelenks

Ein Ausweg in ein schmerzfreies und mobileres Leben?

Fortgeschrittene degenerative Kiefergelenkserkrankungen können für betroffene Patienten mit erheblichen Funktionseinschränkungen und Schmerzen verbunden sein. Die Therapie ist herausfordernd, insbesondere wenn nach Ausschöpfung konservativer Maßnahmen eine weitere Progredienz zu beobachten ist. Eine mögliche Behandlungsoption stellt dann der Ersatz des Kiefergelenkes durch eine Totalendoprothese (TEP) dar [1,2,3].

Obwohl der künstliche Ersatz großer Gelenke wie z.B. dem Hüft-, Schulter- oder Kniegelenk längst etabliert und verbreitet ist, registriert man eine zunehmende Akzeptanz des Kiefergelenkersatzes erst seit kürzerem. 

So gerieten Kiefergelenksprothesen der frühen Generation durch ein häufifig beobachtetes Implantatversagen in Verruf [4]. Weitere Komplikationen traten durch Nichtbeachtung orthopädischer Standards beim operativen Vorgehen auf [5]. Durch Änderung des Designs und Auswahl entsprechender Materialien sowie Anpassung des chirurgischen Protokolls konnten diese Probleme aber weitgehend behoben werden [6]. Eine weitere Verbesserung wurde durch die Einführung patientenindividuell hergestellter Prothesen erreicht. Die hohe Passgenauigkeit reduziert die Eingriffszeit und steigert nochmals die Prognose [7]. Inzwischen weisen moderne Kiefergelenksprothesen Standzeiten von teilweise mehr als 25 Jahren auf [8]. 

Im Unterschied zu anderen Gelenken sollte der künstliche Ersatz des Kiefergelenkes komplett erfolgen, da beim Ersatz lediglich des Gelenkkopfes ohne Abstützung durch eine künstliche Gelenkpfanne die Gefahr einer Perforation durch die Schädelbasis als gefürchtete Komplikation nicht sicher gebannt ist [3,5,6]. 

Fallbericht

Die 41-jährige Patientin wurde zur Weiterbehandlung mit seit langem bestehenden und nun zunehmenden funktionellen Beschwerden des linken Kiefergelenks überwiesen (Abb. 1). Bei der Eigenanamnese berichtete die Patientin von einem alten Trauma mit Kieferköpfchenfraktur links im Jugendalter. Zum Zeitpunkt der Vorstellung erfolgte bereits eine langjährige Schmerztherapie mit nichtsteroidalen Antiphlogistika und Physiotherapie. Diese zeigte zuletzt keine hinreichende Linderung der Beschwerden. Besonders belastend waren für die Patientin die starken bewegungsabhängigen Schmerzen, wodurch sie sich in ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigt fühlte. Durch die Schmerzen zeigte sich auch der aktive Bewegungsumfang wegen eines Vermeidungsverhaltens deutlich reduziert. 

Neben einer orientierenden Funktionsdiagnostik wurde ergänzend eine Magnetresonanztomografifie (MRT) der Kiefergelenke angefertigt. Diese bestätigte einen strukturellen Schaden des linken Kiefergelenks im Sinne einer schweren Arthrose mit fortgeschrittener Gelenkdestruktion. Der Schaden war bereits so ausgeprägt, dass minimalinvasive Verfahren wie die Arthrozentese oder die arthoroskopische Operation des Kiefergelenkes nicht mehr berücksichtigt werden konnten [9]. 

Entsprechend des Wunsches der Patientin zur Beseitigung der Schmerzen und Wiederherstellung einer adäquaten Funktion, wurde der Ersatz des linken Kiefergelenkes geplant. Zur Wahl stehen abhängig vom Hersteller unterschiedliche biokompatible Materialien. Beim Hersteller Zimmer Biomet besteht die Gelenkpfanne (Fossa-Komponente) allein aus einem ultrahochvernetztem Kunststoff (Polyethylen). Beim individuell gefertigten Gelenkkopf (mandibuläre Komponente) hat man die Wahl zwischen einer Kobalt-Chrom-Molybden- (Co-Cr-Mo-) oder einer Titanlegierung. 

Zusätzlich ist fachlich abzuwägen, welche Art der Kiefergelenk-TEP man verwendet. Es lassen sich zwei Arten von Kiefergelenkendoprothesen unterscheiden, die konfektionierte oder die individuell angepasste Prothese. Individuell mit dem CAD/CAM-Verfahren hergestellte TEP sind maßgeschneidert, benötigen jedoch Zeit zur Herstellung und sind kostenintensiver als konfektionierte Modelle. Konfektionierte TEP sind rasch verfügbar, jedoch gibt es nur wenige Standardgrößen. Daher ist der Einsatz individuell abzuwägen, weil die Anpassung in der Regel deutlich aufwändiger ist. Mit individuellen und auch mit konfektionierten TEP lassen sich virtuelle Operationsplanungen im Vorfeld durchführen. Bei der konfektionierten TEP empfifiehlt sich dies sogar, weil die Anpassung deutlich schwieriger ist und durch die Simulation im Vorfeld mögliche intraoperative Probleme besser aufgedeckt werden können. 

Planung

Zur Planung eines individuellen Gelenkersatzes (CAD/ CAM-Verfahren) wurde eine digitale Volumentomografie (DVT) des Schädels nach Protokoll des Herstellers (Zimmer Biomet) in Okklusion angefertigt. Das Design des individuellen Gelenkersatzes (bestehend aus den Komponenten Gelenkpfanne und Gelenkkopf) kam in Abstimmung mit den Technikern der Firma 3D Systems (Littelton, Colorado, USA) zustande (Abb. 2). Nach Designfreigabe durch den Kieferchirurgen erfolgte die Herstellung der Kiefergelenkendoprothese durch das Unternehmen Zimmer Biomet (Jacksonville, Florida, USA). Für den Gelenkkopf wurde eine Titanlegierung gewählt, die Gelenkpfanne besteht standardmäßig aus ultrahoch vernetztem Polyethylen (UHP). Der gesamte Planungs- und Fertigungsprozess (Anfertigung der Planungsunterlagen bis zur Auslieferung der Prothesenkomponenten) erstreckte sich über einen Zeitraum von etwa vier Monaten. 

Operation

Das operative Protokoll zur Implantation einer Kiefergelenk- TEP folgt orthopädischen Standards. Das heißt, hier ist – im Gegensatz zur dentalen Implantologie oder auch bei der Osteosynthese von Kieferfrakturen – auf eine strenge Asepsis zu achten, da die Bildung eines Biofilms auf den Implantaten durch Keimkontamination eine schwere Komplikation im Sinne eines implantologischen Misserfolges darstellt [10]. 

Der Eingriff wurde in Allgemeinnarkose durchgeführt. Die Abdeckung erforderte eine Trennung des Operationsgebietes von der Mundhöhle (Abb. 3). Über einen präaurikulären Zugang wurde das Kiefergelenk eröffnet. Nach der Entfernung des erkrankten Gewebes sowie der Resektion des Kieferköpfchens wurde die Passung mit einem baugleichen Probe-Implantat geprüft (Abb. 4). Die Implantation der originalen UHP-Fossa erfolgte erst hiernach, um die Exposition möglichst kurz zu halten. Über einen submandibulären Zugang wurde der Gelenkkopf implantiert (Abb. 5). Zur Prophylaxe einer heterotrophen Ossifikation wurde die Endoprothese mit Eigenfett ummantelt. Hiernach erfolgte der mehrschichtige Wundverschluss. 

Verlauf

Das postoperative Röntgenbild (Panoramaschichtaufnahme) zeigte regelrechte Verhältnisse bei Zustand nach Implantation einer Kiefergelenks-TEP (Abb. 6). Noch während des stationären Aufenthaltes wurde ab dem zweiten postoperativen Tag mit der Frühmobilisation begonnen. Die ambulante Nachsorge ab dem fünften postoperativen Tag umfasste regelmäßige Verlaufskontrollen sowie eine begleitende Physiotherapie. Drei Wochen nach dem Eingriff zeigte sich die Patientin völlig beschwerdefrei, nach ca. vier Monaten war eine normale Mundöffnung mit einer Schneidezahn-Kantendistanz (SKD) von circa 40 mm erreicht. Die Verlaufskontrolle nach zehn Monaten zeigte praktisch keine auffälligen Narben der operativen Zugänge (Abb. 7). 

Fazit

Seit etwa 25 Jahren sind patientenindividuelle Kiefergelenk- TEP verfügbar. Deren Einsatz ist in jüngster Zeit stetig gestiegen. Die bisherigen Ergebnisse bei degenerativen Kiefergelenkserkrankungen im Endstadium zeigen, dass angesichts der Einschränkungen und Schmerzen der Patienten der totale Gelenkersatz zwar weiterhin kein Routineeingriff aber auch keine Ultima Ratio mehr darstellen muss. Für eine abschließende Beurteilung der langfristigen Stabilität und Ergebnisqualität sind weitere Ergebnisse abzuwarten. Auch wenn zur Prophylaxe vor zahnärztlich-chirurgischen Maßnahmen bei Patienten mit alloplastischen Kiefergelenkersatz noch keine abschließend gesicherten Erkenntnisse vorliegen, wird diese zumindest teilweise empfohlen [11]. Wesentliche Informationen zum eingesetzten Implantat können dem Implantatausweis entnommen werden. 

Im Falle fortgeschrittener Kiefergelenksdestruktionen kann der totale alloplastische Kiefergelenkersatz eine Behandlungsoption sein, um für den Patienten einen Gewinn an Lebensqualität durch Wiederherstellung eines zufriedenstellenden Bewegungsumfangs und der Schmerzbeseitigung zu erreichen. Moderne individuelle Kiefergelenkersatzsysteme bieten das Potenzial, für den Patienten auch langfristig eine gute Funktion zu erhalten. Obwohl in jüngster Zeit eine Ausweitung der Indikationsstellung für den alloplastischen Kiefergelenkersatz zu verzeichnen ist, sollte diese weiterhin zurückhaltend erfolgen. 

Autoren

Dr. med. Dr. med. dent. Christoph Zizelmann

  • 1994-1999 Studium der Zahnheilkunde in Freiburg, Approbation
  • 2003 Promotion zum Dr. med. dent., Universität Freiburg
  • 2005 Fachzahnarzt für Oralchirurgie
  • 2001-2007 Studium der Humanmedizin in Freiburg, Approbation
  • 2011 Promotion zum Dr. med., Universität Basel
  • Seit 2012 Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichts-chirurgie, Marienhospital Stuttgart
  • 2015 Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichts-chirurgie
  • Seit 2017 Angestellt. Tätigkeit in oralchirurgischer Überweiserpraxis Dr. Björn Lang, Rheinfelden

christoph.zizelmann@gmx.de
www.marienhospital-stuttgart.de

Priv.-Doz. Dr. med. Dr. med. dent. Thomas Fillies

  • 1990-1996 Studium der Humanmedizin, Universität Münster
  • 1996-1999 Studium der Zahnmedizin, Universität Münster
  • 2004-2005 Masterstudiengang für zahnärztliche Implantologie (IMC)
  • 2004 Facharzt für Mund-Kiefer Gesichtschirurgie, Fachzahnarzt für Oralchirurgie
  • 2007 Zusatzbez.: Plastische Operationen
  • Seit 2011 Ärztlicher Direktor der Klinik für MKG-Chirurgie am Zentrum für Plast. Chirurgie, Marienhospital Stuttgart

mkg@vinzenz.de
www.marienhospital-stuttgart.de